Der Philosoph

 

Arthur Schopenhauer


Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich

 

 

Der Tod ist der eigentliche inspirirende Genius, (…)der Philosophie, (…) Schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophirt werden. Das Thier lebt ohne eigentliche Kenntniß des Todes: daher [543] genießt das thierische Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, indem es sich seiner nur als endlos bewußt ist. Beim Menschen fand sich, mit der Vernunft, nothwendig die erschreckende Gewißheit des Todes ein. Wie aber durchgängig in der Natur jedem Uebel ein Heilmittel, oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist; so verhilft die selbe Reflexion, welche die Erkenntniß des Todes herbeiführte, auch zu metaphysischen Ansichten, die darüber trösten, und deren das Thier weder bedürftig noch fähig ist. Hauptsächlich auf diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme gerichtet, sind also zunächst das von der reflektirenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewißheit des Todes. Der Grad jedoch, in welchem sie diesen Zweck erreichen, ist sehr verschieden, und allerdings wird eine Religion oder Philosophie viel mehr, als die andere, den Menschen befähigen, ruhigen Blickes dem Tod ins Angesicht zu sehn. Brahmanismus und Buddhaismus, die den Menschen lehren, sich als das Urwesen selbst, das Brahm, zu betrachten, welchem alles Entstehn und Vergehn wesentlich fremd ist, werden darin viel mehr leisten, als solche, welche ihn aus nichts gemacht seyn und seine, von einem Andern empfangene Existenz wirklich mit der Geburt anfangen lassen. (…) 

Nach Allem inzwischen, was über den Tod gelehrt worden, ist nicht zu leugnen, daß, wenigstens in Europa, die Meinung der Menschen, ja oft sogar des selben Individuums, gar häufig von Neuern hin und her schwankt zwischen der Auffassung des Todes als absoluter Vernichtung und der Annahme, daß wir gleichsam mit Haut und Haar unsterblich seien. Beides ist gleich falsch: allein wir haben nicht sowohl eine richtige Mitte zu treffen, als vielmehr den höheren Gesichtspunkt zu gewinnen, von welchem aus solche Ansichten von selbst wegfallen.

 

Diese Todesfurcht a priori ist aber eben nur die Kehrseite des Willens zum Leben, welcher wir Alle ja sind. (…) Das größte der Uebel, das Schlimmste was überall gedroht werden kann, ist der Tod, die größte Angst Todesangst, (…)

Jene mächtige Anhänglichkeit an das Leben ist mithin eine unvernünftige und blinde: sie ist nur daraus erklärlich, daß unser ganzes Wesen an sich selbst schon Wille zum Leben ist, dem dieses daher als das höchste Gut gelten muß, so [546] verbittert, kurz und ungewiß es auch immer seyn mag; und daß jener Wille, an sich und ursprünglich, erkenntnißlos und blind ist. Die Erkenntniß hingegen, weit entfernt der Ursprung jener Anhänglichkeit an das Leben zu seyn, wirkt ihr sogar entgegen, indem sie die Werthlosigkeit desselben aufdeckt und hiedurch die Todesfurcht bekämpft. – Wann sie nun siegt, und demnach der Mensch dem Tode muthig und gelassen entgegengeht; so wird dies als groß und edel geehrt: wir feiern also dann den Triumph der Erkenntniß über den blinden Willen zum Leben, der doch der Kern unsers eigenen Wesens ist.

(…) 

 Aber eben so wenig Anlaß ist andererseits zu schließen, daß, weil hier das organische Leben aufgehört hat, deshalb auch jene dasselbe bisher aktuirende Kraft zu Nichts geworden sei; – so wenig, als [552] vom stillstehenden Spinnrade auf den Tod der Spinnerin zu schließen ist. Wenn ein Pendel, durch Wiederfinden seines Schwerpunkts, endlich zur Ruhe kommt, und also das individuelle Scheinleben desselben aufgehört hat; so wird Keiner wähnen, jetzt sei die Schwere vernichtet; sondern Jeder begreift, daß sie in zahllosen Erscheinungen nach wie vor thätig ist. (…)Um so weniger also darf es uns in den Sinn kommen, das Aufhören des Lebens für die Vernichtung des belebenden Princips, mithin den Tod für den gänzlichen Untergang des Menschen zu halten. Weil der kräftige Arm, der, vor dreitausend Jahren, den Bogen des Odysseus spannte, nicht mehr ist, wird kein nachdenkender und wohlgeregelter Verstand die Kraft, welche in demselben so energisch wirkte, für gänzlich vernichtet halten, aber daher, bei fernerem Nachdenken, auch nicht annehmen, daß die Kraft, welche heute den Bogen spannt, erst mit diesem Arm zu existiren angefangen habe. Viel näher liegt der Gedanke, daß die Kraft, welche früher ein nunmehr entwichenes Leben aktuirte, die selbe sei, welche in dem jetzt blühenden thätig ist: ja, dieser ist fast unabweisbar. Gewiß aber wissen wir, daß, wie im zweiten Buche dargethan wurde, nur Das vergänglich ist, was in der Kausalkette begriffen ist: dies aber sind bloß die Zustände und Formen. (…) Also schon als Naturkraft genommen, bleibt die Lebenskraft ganz unberührt von dem Wechsel der Formen und Zustände, welche das Band der Ursachen und [553] Wirkungen herbei- und hinwegführt, und welche allein dem Entstehn und Vergehn, wie es in der Erfahrung vorliegt, unterworfen sind. Soweit also ließe sich schon die Unvergänglichkeit unsers eigentlichen Wesens sicher beweisen. (…) Erwägen wir nun ferner, daß nicht nur, wie soeben in Betrachtung genommen, Leben und Tod von den geringfügigsten Zufällen abhängig sind, sondern daß das Daseyn der organischen Wesen überhaupt ein ephemeres ist, Thier und Pflanze heute entsteht und morgen vergeht, und Geburt und Tod in schnellem Wechsel folgen, während dem so sehr viel tiefer stehenden Unorganischen eine ungleich längere Dauer gesichert ist, eine unendlich lange aber nur der absolut formlosen Materie, welcher wir dieselbe sogar a priori zuerkennen; – da muß, denke ich, schon der bloß empirischen, aber objektiven und unbefangenen Auffassung einer solchen Ordnung der Dinge von selbst der Gedanke folgen, daß dieselbe nur ein oberflächliches Phänomen sei, daß ein solches beständiges Entstehn und Vergehn keineswegs an die Wurzel der Dinge greifen, sondern nur ein relatives, ja nur scheinbares seyn könne, von welchem das eigentliche, sich ja ohnehin überall unserm Blick entziehende und durchweg geheimnißvolle, innere Wesen jedes Dinges nicht mitgetroffen werde, vielmehr dabei ungestört fortbestehe; (…)

Ich sage, eine unmittelbare, intuitive Ueberzeugung der Art, wie ich sie hier mit Worten zu umschreiben gesucht habe, wird sich Jedem aufdringen: d.h. freilich nur Jedem, dessen Geist nicht von der ganz gemeinen Gattung ist, als welche, schlechterdings nur das Einzelne, ganz und gar als solches, zu erkennen fähig, streng auf Erkenntniß der Individuen beschränkt ist, nach Art des thierischen Intellekts. Wer hingegen, durch eine nur etwas höher potenzirte Fähigkeit, auch bloß anfängt, in den Einzelwesen ihr Allgemeines, ihre Ideen, zu erblicken, der wird auch jener Ueberzeugung in gewissem Grade theilhaft werden, und zwar als einer unmittelbaren und darum gewissen. In der That sind es auch nur die kleinen, beschränkten Köpfe, welche ganz ernstlich den Tod als ihre Vernichtung fürchten; (…) Plato gründete mit Recht die ganze Philosophie auf die Erkenntniß der Ideenlehre, d.h. auf das Erblicken des Allgemeinen im Einzelnen. (…) 

 Die entgegengesetzte Annahme aber, daß die Geburt eines Thieres eine Entstehung aus nichts, und dem entsprechend sein Tod seine absolute Vernichtung sei, und Dies noch mit der Zugabe, daß der Mensch, eben so aus nichts geworden, dennoch eine individuelle, endlose Fortdauer und zwar mit Bewußtseyn habe, während der Hund, der Affe, der Elephant durch den Tod vernichtet würden, – ist denn doch wohl etwas, wogegen der gesunde Sinn sich empören und es für absurd erklären muß. (…) 

 

Wenn man im Herbst die kleine Welt der Insekten betrachtet und nun sieht, wie das eine sich sein Bett bereitet, um zu schlafen, den langen, erstarrenden Winterschlaf; das andere sich einspinnt, um als Puppe zu überwintern und einst, im Frühling, verjüngt und vervollkommnet zu erwachen; endlich die meisten, als welche ihre Ruhe in den Armen des Todes zu halten gedenken, bloß ihrem Ei sorgfältig die geeignete Lagerstätte anpassen, um einst aus diesem erneuet hervorzugehn; – so ist dies die große Unsterblichkeitslehre der Natur, welche uns beibringen möchte, daß zwischen Schlaf und Tod kein radikaler Unterschied ist, sondern der Eine so wenig wie der Andere das Daseyn gefährdet. Die Sorgfalt, mit der das Insekt eine Zelle, oder Grube, oder Nest bereitet, sein Ei hineinlegt, nebst Futter für die im kommenden Frühling daraus hervorgehende Larve, und dann ruhig stirbt, – gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid und sein Frühstück für den kommenden Morgen bereitlegt und dann ruhig schlafen geht, – und könnte im Grunde gar nicht Statt haben, wenn nicht, an sich und seinem wahren Wesen nach, das im Herbste sterbende Insekt mit dem im Frühling auskriechenden eben so wohl identisch wäre, wie der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden.

(…)

 

Kant, in seinem subjektiven Verfahren, brachte die große, wiewohl negative Wahrheit zu Tage, daß dem Ding an sich die Zeit nicht zukommen könne; weil sie in unserer Auffassung präformirt liege. Nun ist der Tod das zeitliche Ende der zeitlichen Erscheinung; aber sobald wir die Zeit wegnehmen, giebt es gar kein Ende mehr und hat dies Wort alle Bedeutung verloren. Ich aber, hier auf dem objektiven Wege, bin jetzt bemüht, das Positive der Sache nachzuweisen, daß nämlich das Ding an sich von der Zeit und Dem, was nur durch sie möglich ist, dem Entstehn und Vergehn, unberührt bleibt, und daß die Erscheinungen in der Zeit sogar jenes rastlos flüchtige, dem Nichts zunächst stehende Daseyn nicht haben könnten, wenn nicht in ihnen ein Kern aus der Ewigkeit wäre. Die Ewigkeit ist freilich ein Begriff, dem keine Anschauung zum Grunde liegt: er ist auch deshalb bloß negativen Inhalts, besagt nämlich ein zeitloses Daseyn. Die Zeit ist dennoch ein bloßes Bild der Ewigkeit, ho chronos eikôn tou aiônos, wie es Plotinos hat: und eben so ist unser zeitliches Daseyn das bloße Bild unsers Wesens an sich. Dieses muß in der Ewigkeit liegen, eben weil die Zeit nur die Form unsers Erkennens ist: vermöge dieser allein aber erkennen wir unser und aller Dinge Wesen als vergänglich, endlich und der Vernichtung anheimgefallen.

(…) 

 

Im Grunde aber sind wir mit der Welt viel mehr Eins, als wir gewöhnlich denken: ihr inneres Wesen ist unser Wille; ihre Erscheinung ist unsere Vorstellung. Wer dieses Einsseyn sich zum deutlichen Bewußtseyn bringen könnte, dem würde der Unterschied zwischen der Fortdauer der Außenwelt, nachdem er gestorben, und seiner eigenen Fortdauer nach dem Tode verschwinden: Beides würde sich ihm als Eines und das Selbe darstellen, ja, er würde über den Wahn lachen, der sie trennen konnte. Denn das Verständniß der Unzerstörbarkeit unsers Wesens fällt mit dem der Identität des Makrokosmos und Mikrokosmos zusammen. Einstweilen kann man das hier Gesagte sich durch ein eigenthümliches, mittelst der Phantasie vorzunehmendes Experiment, welches ein metaphysisches genannt werden könnte, erläutern. Man versuche nämlich, sich die keinen Falls gar ferne Zeit, da man gestorben seyn wird, lebhaft zu vergegenwärtigen. Da denkt man sich weg und läßt die Welt fortbestehn: aber bald wird man, zu eigener Verwunderung, entdecken, daß man dabei doch noch dawar. Denn man hat vermeint, die Welt ohne sich vorzustellen: allein im Bewußtseyn ist das Ich das Unmittelbare, durch welches die Welt erst vermittelt, für welches allein sie vorhanden ist. Dieses Centrum alles Daseyns, diesen Kern aller Realität soll man aufheben und dabei dennoch die Welt fortbestehn lassen: es ist ein Gedanke, der sich wohl in abstracto denken, aber nicht realisiren läßt. Das Bemühen, dieses zu leisten, der Versuch, das Sekundäre ohne das Primäre, das Bedingte ohne die Bedingung, das Getragene ohne den Träger zu denken, mißlingt jedesmal, (…) Statt des Beabsichtigten dringt sich uns dabei das Gefühl auf, daß die Welt nicht weniger in uns ist, als wir in ihr, und daß die Quelle aller Realität in unserm Innern liegt. Das Resultat ist eigentlich dieses: die Zeit, da ich nicht seyn werde, wird objektiv kommen; aber subjektiv kann sie nie kommen. – Es ließe daher sich sogar [571] fragen, wie weit denn Jeder, in seinem Herzen, wirklich an eine Sache glaube, die er sich eigentlich gar nicht denken kann; oder ob nicht vielleicht gar, da sich zu jenem bloß intellektuellen, aber mehr oder minder deutlich von Jedem schon gemachten Experiment, noch das tiefinnere Bewußtseyn der Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich gesellt, der eigene Tod uns im Grunde die fabelhafteste Sache von der Welt sei.

Die tiefe Ueberzeugung von unserer Unvertilgbarkeit durch den Tod, welche, wie auch die unausbleiblichen Gewissenssorgen bei Annäherung desselben bezeugen, Jeder im Grunde seines Herzens trägt, hängt durchaus an dem Bewußtseyn unserer Ursprünglichkeit und Ewigkeit; (…)  

 

Denn als unvergänglich kann ein vernünftiger Mensch sich nur denken, sofern er sich als anfangslos, als ewig, eigentlich als zeitlos denkt. Wer hingegen sich für aus Nichts geworden hält, muß auch denken, daß er wieder zu Nichts wird: denn daß eine Unendlichkeit verstrichen wäre, ehe er war, dann aber eine zweite angefangen habe, welche hindurch er nie aufhören wird zu seyn, ist ein monstroser Gedanke. Wirklich ist der solideste Grund für unsere Unvergänglichkeit der alte Satz: Ex nihilo nihil fit, et in nihilum nihil potest reverti. Ganz treffend sagt daher Theophrastus Paracelsus (Werke, Strasburg 1603, Bd. 2, S. 6): »Die Seel in mir ist aus Etwas geworden; darum sie nicht zu Nichts kommt: denn aus Etwas kommt sie.« Er giebt den wahren Grund an. Wer aber die Geburt des Menschen für dessen absoluten Anfang hält, dem muß der Tod das absolute Ende desselben seyn. Denn Beide sind was sie sind in gleichem Sinne: folglich kann Jeder sich nur insofern als unsterblich denken, als er sich auch als ungeboren denkt, und in gleichem Sinn. Was die Geburt ist, das ist, dem Wesen und der Bedeutung nach, auch der Tod; es ist die selbe Linie in zwei Richtungen beschrieben. Ist jene ein wirkliche Entstehung aus Nichts; so ist auch dieser eine wirkliche Vernichtung. In Wahrheit aber läßt sich nur mittelst der Ewigkeit unsers eigentlichen Wesens eine Unvergänglichkeit desselben denken, welche [572] mithin keine zeitliche ist. Die Annahme, daß der Mensch aus Nichts geschaffen sei, führt nothwendig zu der, daß der Tod sein absolutes Ende sei. Hierin ist also das Alte Testament völlig konsequent: denn zu einer Schöpfung aus Nichts paßt keine Unsterblichkeitslehre. Das neutestamentliche Christenthum hat eine solche, weil es Indischen Geistes und daher, mehr als wahrscheinlich, auch Indischer Herkunft ist, wenn gleich nur unter Aegyptischer Vermittelung. Allein zu dem Jüdischen Stamm, auf welchen jene Indische Weisheit im gelobten Lande gepfropft werden mußte, paßt solche wie die Freiheit des Willens zum Geschaffenseyn desselben, oder wie

Humano capiti cervicem pictor equinam

Jungere si velit.

 

Es ist immer schlimm, wenn man nicht von Grund aus originell seyn und aus ganzem Holze schneiden darf. – Hingegen haben Brahmanismus und Buddhaismus ganz konsequent zur Fortdauer nach dem Tode ein Daseyn vor der Geburt, dessen Verschuldung abzubüßen dieses Leben da ist. (…)

 

Wer nun aber so sein Daseyn an die Identität des Bewußtseyns knüpft und daher für dieses eine endlose Fortdauer nach dem Tode verlangt, sollte bedenken, daß er eine solche jedenfalls nur um den Preis einer eben so endlosen Vergangenheit vor der Geburt erlangen kann. Denn da er von einem Daseyn vor der Geburt keine Erinnerung hat, sein Bewußtseyn also mit der Geburt anfängt, muß ihm diese für ein Hervorgehn seines Daseyns aus dem Nichts gelten. Dann aber erkauft er die unendliche Zeit seines Daseyns nach dem Tode für eine eben so lange vor der Geburt: wobei die Rechnung, ohne Profit für ihn, aufgeht. Ist hingegen das Daseyn, welches der Tod unberührt läßt, ein anderes, als das des individuellen Bewußtseyns; so muß es, eben so wie vom Tode, auch von der Geburt unabhängig seyn, und demnach in Beziehung auf dasselbe es gleich wahr seyn zu sagen: »Ich werde stets seyn« und »Ich bin stets gewesen«; welches dann doch zwei Unendlichkeiten für eine giebt. – Eigentlich aber liegt im Worte Ich das größte Aequivokum, (…)

Daher weiß Jeder von sich nur als von diesem Individuo, wie es in der äußeren Anschauung sich darstellt. Könnte er hingegen zum Bewußtseyn bringen was er noch überdies und außerdem ist; so würde er seine Individualität willig fahren lassen, die Tenacität seiner Anhänglichkeit an dieselbe belächeln und sagen: »Was kümmert der Verlust dieser Individualität mich, der ich die Möglichkeit zahlloser Individualitäten in mir trage?« Er würde einsehn, daß, wenn ihm gleich eine Fortdauer seiner Individualität nicht bevorsteht, es doch ganz so gut ist, als hätte er eine solche; weil er einen vollkommenen Ersatz für sie in sich trägt. Unsterblichkeit der Individualität verlangen, heißt eigentlich einen Irrthum ins Unendliche perpetuiren wollen. Denn im Grunde ist doch jede Individualität nur ein specieller Irrthum, 

 

Zu einem glücksäligen Zustande des Menschen wäre also keineswegs hinreichend, daß man ihn in eine »bessere Welt« [577] versetzte, sondern auch noch erfordert, daß mit ihm selbst eine Grundveränderung vorgienge, also daß er nicht mehr wäre was er ist, und dagegen würde was er nicht ist. (…)  Hingegen ist die Besorgniß, es möchte mit dem Tode Alles aus seyn, Dem zu vergleichen, daß Einer im Traume dächte, es gäbe bloße Träume, ohne einen Träumenden(…)

 

Auf den Menschen, als Erscheinung in der Zeit, ist der Begriff des Aufhörens allerdings anwendbar und die empirische Erkenntniß legt unverhohlen den Tod als das Ende dieses zeitlichen Daseyns dar. Das Ende der Person ist eben so real, wie es ihr Anfang war, und in eben dem Sinne, wie wir vor der Geburt nicht waren, werden wir nach dem Tode nicht mehr seyn. Jedoch kann durch den Tod nicht mehr aufgehoben werden, als durch die Geburt gesetzt war; also nicht Das, wodurch die Geburt allererst möglich geworden. In diesem Sinne ist natus et denatus ein schöner Ausdruck. – Nun aber liefert die gesammte empirische Erkenntniß bloße Erscheinungen: nur diese daher wer den von den zeitlichen Hergängen des Entstehns und Vergehns getroffen, nicht aber das Erscheinende, das Wesen an sich. Für dieses existirt der durch das Gehirn bedingte Gegensatz von Entstehn und Vergehn gar nicht, sondern hat hier Sinn und Bedeutung verloren. (…) 

 der Wille allein, dessen Werk oder vielmehr Abbild der Leib war, ist das Unzerstörbare. Die strenge Unterscheidung [581] des Willens von der Erkenntniß, nebst dem Primat des erstern, welche den Grundcharakter meiner Philosophie ausmacht, ist daher der alleinige Schlüssel zu dem sich auf mannigfaltige Weise kund gebenden und in jedem, sogar dem ganz rohen Bewußtseyn stets von Neuern aufsteigenden Widerspruch, daß der Tod unser Ende ist, und wir dennoch ewig und unzerstörbar seyn müssen, also dem sentimus, experimurque nos aeternos esse des Spinoza. Alle Philosophen haben darin geirrt, daß sie das Metaphysische, das Unzerstörbare, das Ewige im Menschen in den Intellekt setzten: es liegt ausschließlich im Willen, der von jenem gänzlich verschieden und allein ursprünglich ist. 

Der Wille allein ist das Bedingende, der Kern der ganzen Erscheinung, von den Formen dieser, zu welchen die Zeit gehört, somit frei, also auch unzerstörbar. Mit dem Tode geht demnach zwar das Bewußtseyn verloren, nicht aber Das, was das Bewußtseyn hervorbrachte und erhielt: das Leben erlischt, nicht aber mit ihm das Princip des Lebens, welches in ihm sich manifestirte. Daher also sagt Jedem ein sicheres Gefühl, daß in ihm etwas schlechthin Unvergängliches und Unzerstörbares sei. Sogar das Frische und Lebhafte der Erinnerungen aus der fernsten Zeit, aus der ersten Kindheit, zeugt davon, daß irgend etwas in uns nicht mit der Zeit sich fortbewegt, nicht altert, sondern unverändert beharrt. Aber was dieses Unvergängliche sei, konnte man sich nicht deutlich machen. Es ist nicht das Bewußtseyn, so wenig wie der Leib, auf welchem offenbar das Bewußtseyn beruht. Es ist vielmehr Das, worauf der Leib, mit sammt dem Bewußtseyn beruht. Dieses aber ist eben Das, was, indem es ins Bewußtseyn fällt, sich als Wille darstellt. Ueber diese unmittelbarste Erscheinung desselben hinaus können wir freilich nicht; weil wir nicht über das Bewußtseyn hinaus können: daher bleibt die Frage, was denn Jenes seyn möge, sofern es nicht ins Bewußtseyn fällt, d.h. was es schlechthin an sich selbst sei, unbeantwortbar.

(…) 

Der ganze Wille zum Leben ist im Individuo, wie er im Geschlechte ist, und daher ist die Fortdauer der Gattung bloß das Bild der Unzerstörbarkeit des Individui.

(…)  

Wenn gleich also nicht das individuelle Bewußtseyn den Tod überlebt; so überlebt ihn doch Das, was allein sich gegen ihn sträubt: der Wille. Hieraus erklärt sich auch der Widerspruch, daß die Philosophen, vom Standpunkt der Erkenntniß aus, allezeit mit treffenden Gründen bewiesen haben, der Tod sei kein Uebel; die Todesfurcht jedoch dem Allen unzugänglich bleibt: weil sie eben nicht in der Erkenntniß, sondern allein im Willen wurzelt. Eben daher, daß nur der Wille, nicht aber der Intellekt das Unzerstörbare [585] ist, kommt es auch, daß alle Religionen und Philosophien allein den Tugenden des Willens, oder Herzens, einen Lohn in der Ewigkeit zuerkennen, nicht denen des Intellekts, oder Kopfes. 

(…)

 Tod und Geburt sind die stete Auffrischung des Bewußtseyns des an sich end- und anfangslosen Willens, der allein gleichsam die Substanz des Daseyns ist (jede solche Auffrischung aber bringt eine neue Möglichkeit der Verneinung des Willens zum Leben). Das Bewußtseyn ist das Leben des Subjekts des Erkennens, oder des Gehirns, und der Tod dessen Ende. Daher ist das Bewußtseyn endlich, stets neu, jedesmal von vorne anfangend. Der Wille allein beharrt; aber auch ihm allein ist am Beharren gelegen: denn er ist der Wille zum Leben. Dem erkennenden Subjekt für sich ist an nichts gelegen. Im Ich sind jedoch Beide verbunden. – In jedem animalischen Wesen hat der Wille einen Intellekt errungen, welcher das Licht ist, bei dem er hier seine Zwecke verfolgt. – Beiläufig gesagt, mag die Todesfurcht zum Theil auch darauf beruhen, daß der individuelle Wille so ungern sich von seinem, durch den Naturlauf ihm zugefallenen Intellekt trennt, von seinem Führer und Wächter, ohne den er sich hülflos und blind weiß.

(…)

 

Solange keine Verneinung jenes Willens eingetreten, ist was der Tod von uns übrig läßt der Keim und Kern eines ganz andern Daseyns, in welchem ein neues Individuum sich wiederfindet, so frisch und ursprünglich, daß es über sich selbst verwundert brütet. Daher der schwärmerische und träumerische Hang edler Jünglinge, zur Zeit wo dieses frische Bewußtseyn sich eben ganz entfaltet hat. Was für das Individuum der Schlaf, das ist für den Willen als Ding an sich der Tod. Er würde es nicht aushaken, eine Unendlichkeit hindurch das selbe Treiben und Leiden, ohne wahren Gewinn, fortzusetzen, wenn ihm Erinnerung und Individualität bliebe. Er wirft sie ab, dies ist der Lethe, und tritt, durch diesen Todesschlaf erfrischt und mit einem andern Intellekt ausgestattet, als ein neues Wesen wieder [588] auf: »Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!« –

Als sich bejahender Wille zum Leben hat der Mensch die Wurzel seines Daseyns in der Gattung. Demnach ist sodann der Tod das Verlieren einer Individualität und Empfangen einer andern, folglich ein Verändern der Individualität unter der ausschließlichen Leitung seines eigenen Willens. (…)

 

 

Daher gerathen wir hier freilich auf eine Art Metempsychose; wiewohl mit dem bedeutenden Unterschiede, daß solche nicht die ganze psychê, nämlich nicht das erkennende Wesen betrifft, sondern den Willen allein; wodurch so viele Ungereimtheiten wegfallen, welche die [589] Metempsychosenlehre begleiten; (…) Diese steten Wiedergeburten machten dann die Succession der Lebensträume eines an sich unzerstörbaren Willens aus, bis er, durch so viele und verschiedenartige, successive Erkenntniß, in stets neuer Form, belehrt und gebessert, sich selbst aufhöbe.

Mit dieser Ansicht stimmt auch die eigentliche, so zu sagen esoterische Lehre des Buddhaismus, wie wir sie durch die neuesten Forschungen kennen gelernt haben, überein, indem sie nicht Metempsychose, sondern eine eigenthümliche, auf moralischer Basis ruhende Palingenesie lehrt, welche sie mit großem Tiefsinn ausführt und darlegt; (…) 

 

Uebrigens darf nicht außer Acht gelassen werden, daß sogar [590] empirische Gründe für eine Palingenesie dieser Art sprechen. Thatsächlich ist eine Verbindung vorhanden zwischen der Geburt der neu auftretenden Wesen und dem Tode der abgelebten: sie zeigt sich nämlich an der großen Fruchtbarkeit des Menschengeschlechts, welche als Folge verheerender Seuchen entsteht. (…) 

Die hier ausgesprochene große Wahrheit ist auch nie ganz verkannt worden, wenn sie gleich nicht auf ihren genauen und richtigen Sinn zurückgeführt werden konnte, als welches allein durch die Lehre vom Primat und metaphysischen Wesen des Willens, und der sekundären, bloß organischen Natur des Intellekts möglich wird. Wir finden nämlich die Lehre von der Metempsychose, aus den urältesten und edelsten Zeiten des Menschengeschlechts [591] stammend, stets auf der Erde verbreitet, als den Glauben der großen Majorität des Menschengeschlechts, ja, eigentlich als Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der jüdischen und der zwei von dieser ausgegangenen; am subtilsten jedoch und der Wahrheit am nächsten kommend, wie schon erwähnt, im Buddhaismus. Während demgemäß die Christen sich trösten mit dem Wiedersehn in einer andern Welt, in welcher man sich in vollständiger Person wiederfindet und sogleich erkennt, ist in jenen übrigen Religionen das Wiedersehn schon jetzt im Gange, jedoch incognito: nämlich im Kreislauf der Geburten und kraft der Metempsychose, oder Palingenesie, werden die Personen, welche jetzt in naher Verbindung oder Berührung mit uns stehn, auch bei der nächsten Geburt zugleich mit uns geboren, und haben die selben, oder doch analoge Verhältnisse und Gesinnungen zu uns, wie jetzt, diese mögen nun freundlicher, oder feindlicher Art seyn. (Man sehe z.B. Spence Hardy's Manual of Buddhism, p. 162.) Das Wiedererkennen beschränkt sich dabei freilich auf eine dunkle Ahndung, eine nicht zum deutlichen Bewußtseyn zu bringende und auf eine unendliche Ferne hindeutende Erinnerung; – mit Ausnahme jedoch des Buddha selbst, der das Vorrecht hat, seine und der Andern frühere Geburten deutlich zu erkennen; (…) 

 

Auch habe ich bemerkt, daß er Jedem, der zum ersten Mal davon hört, sogleich einleuchtet. Man sehe nur, wie ernstlich sogar Lessing ihm das Wort redet in den letzten sieben Paragraphen seiner »Erziehung des Menschengeschlechts«. Auch Lichtenberg sagt, in seiner Selbstcharakteristik: »Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß ich gestorben war, ehe ich geboren wurde«. Sogar der so übermäßig empirische Hume sagt in seiner skeptischen Abhandlung über die Unsterblichkeit, p. 23: The metempsychosis is therefore the only system of this kind that philosophy can hearken to. Was diesem, über das ganze Menschengeschlecht verbreiteten und den Weisen, wie dem Volke einleuchtenden Glauben entgegensteht, ist das Judenthum, nebst den aus diesem entsprossenen zwei Religionen, sofern sie eine Schöpfung des Menschen aus Nichts lehren, an welche er dann den Glauben an eine endlose Fortdauer a parte post zu knüpfen die harte Aufgabe hat. Ihnen freilich ist es, mit Feuer und Schwerdt, gelungen, aus Europa und einem Theile Asiens jenen tröstlichen Urglauben der Menschheit zu verdrängen: es steht noch dahin [594] auf wie lange. Wie schwer es jedoch gehalten hat, bezeugt die älteste Kirchengeschichte: die meisten Ketzer, z.B. Simonisten, Basilidianer, Valentinianer, Marcioniten, Gnostiker und Manichäer waren eben jenem Urglauben zugethan. Die Juden selbst sind zum Theil hineingerathen, wie Tertullian und Justinus (in seinen Dialogen) berichten. Im Talmud wird erzählt, daß Abel's Seele in den Leib des Seth und dann in den des Moses gewandert sei. Sogar die Bibelstelle, Matth. 16, 13-14, erhält einen vernünftigen Sinn nur dann, wann man sie als unter der Voraussetzung des Dogmas der Metempsychose gesprochen versteht. Lukas freilich, der sie (9, 18-20) auch hat, fügt hinzu hoti prophêtês tis tôn archaiôn anestê, schiebt also den Juden die Voraussetzung unter, daß so ein alter Prophet noch mit Haut und Haar wieder auferstehn könne, welches, da sie doch wissen, daß er schon 6 bis 700 Jahre im Grabe liegt, folglich längst zerstoben ist, eine handgreifliche Absurdität wäre. Im Christenthum ist übrigens an die Stelle der Seelenwanderung und der Abbüßung aller in einem früheren Leben begangenen Sünden durch dieselbe die Lehre von der Erbsünde getreten, d.h. von der Buße für die Sünde eines andern Individuums. Beide nämlich identificiren, und zwar mit moralischer Tendenz, den vorhandenen Menschen mit einem früher dagewesenen: die Seelenwanderung unmittelbar, die Erbsünde mittelbar. –

Der Tod ist die große Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben, und näher der diesem wesentliche Egoismus, durch den Lauf der Natur erhält; (…) Während des Lebens ist der Wille des Menschen ohne Freiheit: auf der Basis seines unveränderlichen Charakters geht sein Handeln, an der Kette der Motive, mit Nothwendigkeit vor sich. Nun trägt aber Jeder in seiner Erinnerung gar Vieles, das er gethan, und worüber er nicht mit sich selbst zufrieden ist. Lebte er nun immerfort; so würde er, vermöge der Unveränderlichkeit des Charakters, auch immerfort auf die selbe Weise handeln. Demnach muß er aufhören zu seyn was er ist, um aus dem Keim seines Wesens als ein neues und anderes hervorgehn zu können, Daher löst der Tod jene Bande: der Wille wird wieder frei: denn im Esse, nicht im Operari liegt die Freiheit: Ruhig und sanft ist, in der Regel, der Tod jedes guten Menschen: aber willig sterben, gern sterben, freudig sterben, ist das Vorrecht des Resignirten, Dessen, der den Willen zum Leben aufgiebt und verneint. Denn nur er will wirklich und nicht bloß scheinbar sterben, folglich braucht und verlangt er keine Fortdauer seiner Person. Das Daseyn, welches wir kennen, giebt er willig auf: was ihm statt dessen wird, ist in unsern Augen nichts; weil unser Daseyn, auf jenes bezogen, nichts ist. Der Buddhaistische Glaube nennt jenes Nirwana, d.h. Erloschen.

 

 

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Das Abenteuer der Philosophie 0